Martin Sieber – Morieux

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Alles fängt an mit diesem Alptraum: Während einer Wanderung an der bretonischen Küste türmt sich plötzlich ein Tsunami auf und droht den Träumer mitsamt seinen Eltern zu verschlingen.

Martin Sieber bewegt sich in seiner Erzählung entlang des Küstenweges und entlang der hereinbrechenden Assoziationen. Ein Weg durch Erinnerung und Vergessen, zu sich selbst und hinaus in die Weite.


Artikelnummer 220 Kategorie Schlagwort

Martin Sieber

Martin Alexander Sieber, frankophiles Bürgersöhnchen aus dem Ruhrgebiet, arbeitet als Psychotherapeut in München. Sonntags verwandelt er sich. Dann zieht er einen Anzug an, um feinziselierte Prosa und gedankenvolle Essais zu schreiben.

„Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an jedem siebenten Tage.“
– Friedrich Nietzsche

Alles fängt an mit diesem Alptraum: Während einer Wanderung an der bretonischen Küste türmt sich plötzlich ein Tsunami auf und droht den Träumer mitsamt seinen Eltern zu verschlingen. Bei dem schreckhaft Erwachten wird so eine Flut an Assoziationen ausgelöst, die alle um jene Zeit kreisen, die er in seiner Kindheit und Jugend in der Bretagne verbracht hat. Entlang von Wegmarken im Rhythmus der Wanderung zweigt die Erzählung immer wieder in verschlungene Seitenpfade ab. Vielleicht geht nur die Erinnerung solche Schleichwege. Und vielleicht kann letztlich nur aus einem ursprünglichen Vergessen heraus erzählt werden.

„‚Morieux‘ von Martin Sieber ist für mich noch ein Grund mehr, die deutsche Sprache zu lieben! Poetisch, philosophisch, schön! Ein wahrer Genuss…“ – Marina Berin, wortabdruecke

(…) Nach der Pause in Jospinet liefen Papa und Heiner den Landweg zurück, um den Wagen zu holen; wir anderen brachen in die entgegengesetzte Richtung auf. Obwohl es von nun an nicht länger als eine Stunde dauerte, bis wir an der Kapelle sein würden, zog sich das letzte Stück noch endlos hin. Als ich mir die Strecke einmal auf der Karte ansah, war ich natürlich erstaunt darüber, welch geringe Entfernung wir zurückgelegt hatten, eine bloße Fingerspanne breit. Vor allem wunderte mich, dass der Strand einen Namen trug: Plage de Béliard. Ich fand seinen Klang schön, Béliard, verheißungsvoll wie so viele französische Ortsnamen, aber mit der Gegend konnte ich ihn nicht inVerbindung bringen. Es hätte ein Name mit einem dunkleren Klang sein müssen, einer, der alle Pastellfarben, die sich in Béliard so anmutig auffächern, in jenes graubraune Einerlei eintrübt,das von dem öden Küstenstrich ausging.

Irgendwann gab ich es auf, nach der Kapelle Ausschau zu halten und lief mit gesenktem Kopf weiter den Strand entlang, auf dem ich hin und wieder eine abgestorbene Alge oder die rosa Splitter eines zerstörten Araignée-Panzers umherliegen sah. An vielen Stellen war der Boden mit seltsamen Arabesken übersät, die irgendwelche Steine oder Muscheln, von der Ebbe mitgerissen, dem sandigen Untergrund eingeschrieben hatten. Meine Beine wurden mit jedem Schritt schwerer und schwerer. Ich wollte an etwas Schönes denken und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Aber meine Erschöpfung hatte zugleich von der Phantasie Besitz ergriffen: In meiner Vorstellung kam ich nie weiter als bis zum Abendessen; alles drehte sich nur darum, zu Hause anzukommen, die nassen Schuhe auszuziehen und nach dem Duschen am gedeckten Tisch zu sitzen. Manchmal verblassten auch diese Bilder. Dann trieb ich wie ein Schiffbrüchiger auf einem Meer ohne Ufer in dumpfer Empfindungslosigkeit über den plage des pas perdus, bis mir ganz plötzlich
ein wütender Blitz in die Glieder fuhr: „Ich gehe nicht weiter“, sagte ich mir; doch im gleichen Moment war mir klar, wie vergeblich dies sein würde, sodass ich den trotzigen Entschluss sofort wieder fallen ließ. (…)

Zusätzliche Informationen
Gewicht 100 g
Größe 148 × 98 × 8 mm
Seiten

124

Bindung

Fadenbindung, Hardcover

Auflage

1

Verlag

edition mosaik

Erscheinungsjahr

2019

herausgegeben von

Josef Kirchner, Sarah Oswald

lektoriert von

Manuel Riemelmoser

ISBN

978-3-9504466-2-3

made in

Österreich, Salzburg

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